Wurst auf Holzbrett

Herr Ringelmann ist verstorben. Ein Schlaganfall riss ihn mit 52 aus dem Leben. Bevor Ringelmanns Schicksal zuschlug, lebte er jahrelang in der Wohnung nebenan.

Wir wussten nur wenig über ihn. Freunde hatte er keine, zumindest hab ich nie welche gesehen. Er war einsam, immer alleine unterwegs. Zu Weihnachten und Ostern klopfte er stets an unsere Tür und schenkte uns Süßigkeiten – meist eine Packung Giotto für jeden – um sich dann wieder in seine Ein-Zimmer-Wohnung zurückzuziehen, wo niemand auf ihn wartete. Auch an normalen Tagen verteilte er Süßigkeiten. Nicht nur an die Kinder, sondern ebenso an uns. Die Süßigkeiten trug er in den Taschen seiner zerknitterten Weste mit sich. Meist fand sich darin ein Kügelchen Raffaelo für jeden von uns.

Der Wurstmann

Wenn man Herrn Ringelmann vor dem Haus begegnete, grüßte er immer schon von Weitem. „GRÜSSGOTT“, hallte es dann durch die Gasse. „WIE GEHTS DENN HEUTE?“ brüllte er freundlich wenn man vor ihm stand, so laut, dass die Ohren klingelten. Herr Ringelmann arbeitete in einer Wurstfabrik. Jetzt weiß ich nicht genau wie das in so einer Wurstfabrik abläuft, aber ich nehme an, dass dort viele Maschinen mit großem Lärm Fleisch zerhäckseln, über ratternde Laufbänder transportieren und dann unter wildem Getöse die Fleischpaste in Darmhäute pressen. In seinem Arbeitsalltag muss es auf jeden Fall sehr laut gewesen sein, nur so kann ich mir sein Sprachgebaren erklären. Ich wünschte, ich könnte mehr über ihn erzählen, hätte mehr Interesse gezeigt, so bleibt nur ein Gefühl der Nachdenklichkeit und ein Sinnieren über die Vergänglichkeit des Lebens zurück.

Auch unsere Töchter wussten die Nachricht seines Todes nicht so recht einzuordnen. Für sie war Herr Ringelmann nur der brüllende, nette Mann, der immer Süßigkeiten in der Tasche hatte. Ich nehme an, in diesem Alter ist der Tod etwas sehr Abstraktes, etwas das sich nur schwer verarbeiten lässt. Wahrscheinlich lebt er für sie in einer fremdartigen Welt voller Zuckerwatte und Schokokügelchen weiter.

Eine süße Erinnerung

Wurst auf einem Schneidbrett in schwarz weißNach Ringelmanns Tod kümmerte sich seine Ex-Frau um die Hinterlassenschaft und räumte seinen Kühlschrank aus. Den Inhalt verteilte sie unter den Nachbarn. Wir bekamen zwei Packungen Frankfurter, einen Riesenkranz Fleischwurst, einige Packungen Tankstellenschinken und einen Eimer Industriefleischsalat. Unsere Mädels waren begeistert als sie die Fleischesgaben im Kühlschrank entdeckten. Dass diese Dinge von einem Toten kommen, sagten wir ihnen nicht, sie verspeisten alles ohne Verdruss.

Nur die riesige Fleischwurst wollte niemand. Also packte ich sie vorne in die Arbeitstasche um sie im Büro zu verschenken. Im Büro angekommen, wartete ein Haufen Arbeit. Den Wurstkranz vergaß ich völlig. Wochenlang lief ich mit der Wurst des toten Herrn Ringelmann in der Tasche herum. Als ich sie vor kurzem wieder entdeckte, verströmte sie einen strengen Fäulnisgeruch. Die Wurst landete also in der Tonne, ging denselben Weg wie Ringelmann. Ein trauriger Gedanke, ich weiß, aber so ist das Leben.
Herrn Ringelmann selbst werden wir nicht vergessen, ich habe noch immer eine Packung Giotto von ihm auf dem Schreibtisch und werde diese nicht anrühren, sie wird mich an ihn erinnern.

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